Fortsetzung von
Vera Lengsfeld: Mein Leben in der DDR
Frau Lengsfeld erzählte unter anderem:
In jungen Jahren (mit 23) trat sie in die SED ein, um politisch tätig zu sein. Als die politische Tätigkeit darin bestand, gegen die Aufstellung sowjetischer Atomraketen öffentlich zu protestieren, wurde sie 1983 ausxder SED ausgeschlossen.
Die Bürgerrechtlerin merkte: In der DDR gab es keine Meinungs-,xPresse- und Versammlungsfreiheit, denn die DDR warxeine Diktatur. Sie nannte sich ja auch so: „Diktatur des Proletariats“.
Die Evangelische Kirche schaffte es (im Gegensatz zur Katholischen Kirche) in Verhandlungen mitxdem Staatsoberhaupt Erich Honecker einen politischen Freiraum für Christen zu schaffen. Die Christen konnten sich in Kirchen und auf kirchlichem Gelände versammelt und ihre Meinungen frei äußern, ohne dass die Versammlung angemeldetxwerden musste, verboten werden konnte, oder die Stasi einschritt, wenn kritische Meinungen geäußert wurden. Die Evangelische Kirche kaufte sich diese Rechte beim Staat ein (um nicht zu sagen: verkaufte sich an den Staat), indem sie die Formel schaffte bzw. zuließ: „Kirche im Sozialismus“ (“nicht gegen, nicht neben, sondern im Sozialismus”). Wikipedia
Für die katholische Kirche war die Kirche niemals eine „Kirche im Sozialismus“, obwohl sie ja praktisch auch im Sozialismus tätig war. Der Honeckerstaat versprach sich mitxder Vereinbarung, die mit Konsistorialpräsident Manfred Stolpe und Bischof Albrecht Schönherr am 6. März 1978 getroffen wurde, dass die Evangelische Kirche die SED beim Aufbau des Sozialismus unterstützt.
So kam es, erzählte Frau Lengsfeld weiter, dass es auch Auftritte in kirchlichen Räumen von Nichtchristen, Bürgerrechtlern, Künstlern, Schriftstellern, Liedermachern usw. gab, wie z. B. sie selber, Wolf Biermann, Stefan Heym, Freya Klier, Stephan Krawczyk u. a.
Anschaulich erzählte sie weiter, dass in den Versammlung sehr viele Stasi-Mitarbeiter anwesend waren, zuhörten, alles aufschrieben, aber nicht eingriffen, nicht eingreifen konnten, weil es ja eine vomxStaat genehmigte kirchliche Veranstaltung war. Immer mehr kirchlich nicht gebundene Bürger strömten zu den Veranstaltungen, weil man da frei seine Meinung äußern konnte, ohne gleich von der Stasi verhaftet zu werden. (Bemerkung von Verfasser K.: Die Freiheit ging natürlich nicht soweit, dass man unbehelligt innerhalb der Kirche einer westdeutschen Journalistin ein Interview geben konnte. Man verletzte § 219 StGB/DDR – “Ungesetzliche Verbindungsaufnahme” und wurde bestraft, wenn man die Kirche verließ.)
Frau Lengsfeld schilderte weiter, wie sich die Montagsdemonstrationen besonders in Leipzig entwickelten, dass der Platz in der Kirche nicht mehr ausreichte, alle Menschen zu fassen, dass viele draußen stehen mussten. Da kam dem verantwortlichen Pfarrer Führer und anderen Kirchenmitgliedern die Idee, dass man ja auch aus der Kirche heraustreten, sich den draußen Stehenden anschließen könnte, wenn man draußen schweigt und sich höchstens mit einer Kerze „bewaffnet“ hat. Von Montag zu Montag nahm die Teilnehmerzahl zu. Es kam zum „Wunder von Leipzig“:
„… 70.000 Leipzigern war das Risiko egal. Die stille Macht der Demonstranten, das Kerzenlicht, ihr Mantra «Keine Gewalt», ihr anschwellender Ruf «Wir sind das Volk» verhinderten ein Massaker. Der Geist, der aus dem Kirchenbau auf die Straßen wehte, zerriss die Befehlsketten staatlicher Gewalt und lähmte die Gummiknüppel. Das Wunder von Leipzig ließ die uniformierten Hüter der Staatsmacht begreifen, dass sie auf der falschen Seite standen. Sie liefen über zur Gruppe der überzeugten Hierbleiber. Der 9. Oktober von 1989 war die eigentliche Wende…“
http://www.netzeitung.de/politik/deutschland/1182897.html
Frau Lengsfeld erklärte, wie es zu ihrer Verhaftung kam:
Im Januar 1988 wollte die damalige Bürgerrechtlerin mit anderen Mitstreitern unter anderem für Meinungsfreiheit demonstrieren. Auf ihrem Schild stand der entsprechende Satz der DDR-Verfassung:
„Jeder Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hat das Recht, den Grundsätzen dieser Verfassung gemäß seine Meinung frei und öffentlich zu äußern.“ Art. 27. (1)
Den Artikel fügte sie hinzu, damit auch der letzte Stasimitarbeiter lesen konnte, falls er es noch nicht wusste, dass das ein Zitat aus der DDR-Verfassung ist, welches theoretisch nicht verboten werden könnte.
Da sie wusste, dass sie außerhalb der Kirche nicht demonstrieren durfte (eine Demonstation würde natürlich nie genehmigt werden), wollte sie sich einfach einer bereits genehmigten Demonstration anschließen. Das war die Liebknecht-Luxemburg-Demonstration in Ost-Berlin am 17. Januar 1988. Sie ging auch bewusst allein hin, um sich dem Vorwurf der strafbaren Gruppenbildung zu entziehen.
Das nutzte aber nichts. Schon auf dem Weg dorthin wurde sie verhaftet. Nach ihrer Untersuchungshaft in der zentralen Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen des MfS wurde sie vom Stadtbezirksgericht Lichtenberg wegen „versuchter Zusammenrottung“ zu sechs Monaten Haft verurteilt. Man unterstellte ihr, dass sie wusste, dass es noch andere Bürgerrechtler gab, die ähnlich wie sie für die Einhaltung von Bürgerrechten demonstrieren wollten. Der Versuch der so genannten „Zusammenrottung“ war schon strafbar.
Eine Stimme aus dem Publikum fragt Frau Lengsfeld, ob sie etwas gegen den Richter, der sie verurteilt hat, unternommen hätte. Frau Lengsfeld antwortete, ja, sie habe den Richter, der jetzt eine Rechtsanwaltskanzlei betreibt, gefragt, was er sich bei der Verurteilung gedacht hat. Dieser habe geantwortete, sie möge ihm doch dankbar sein, dass er so ein mildes Urteil für sie herausgeholt hat:
§ 217. Zusammenrottung
(1) Wer sich an einer die öffentliche Ordnung und Sicherheit beeinträchtigenden Ansammlung von Personen beteiligt und sie nicht unverzüglich nach Aufforderung durch die Sicherheitsorgane verläßt, wird mit Haftstrafe oder Geldstrafe bestraft.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Wenn es nach der Stasi gegangen wäre, so sagte der Richter, wären auch mehrere Jahre locker möglich gewesen:
§ 107. Staatsfeindliche Gruppenbildung
(1) Wer einer Gruppe oder Organisation angehört, die sich eine staatsfeindliche Tätigkeit zum Ziele setzt, wird mit Freiheitsstrafe von zwei bis zu acht Jahren bestraft.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Unter dem Publikum waren auch drei VOS-Mitglieder: Günther Kowalczyk, Christoph B. und ich.
Als Frau Lengsfeld davon sprach, dass sie vom Gericht kriminalisiert wurde, sprang Günther Kowalczyk plötzlich auf und rief entrüstet in den Saal, dass er ein politischer Täter sei, stolz darauf sei und sich nicht auf die kriminelle Schiene setzen lasse, von wem auch immer. Er hat Frau Lengsfeld offensichtlich falsch verstanden..
Man muss wissen, um vielleicht zu verstehen, warum er so reagierte, dass Herr Kowalczyk vom Sowjetischen Militärtribunal (SMT) 1950 zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und 1994 von den Russen rehabilitiert wurde, weil er eine politische Tat und keine kriminelle Straftat begangen hat.
Seine Tat, die man ihm zur Last legte und die rehabilitiert wurde, war:
1. Angeblich „Spionage“, die aber gar keine war. Es handelt sich um eine politische Tat,
2. Verbreitung antisowjetischer Literatur, die auch einfach nur eine politische Tat war.
Das Tragische am Schicksal von Herr Kowalczyk ist, dass die „Sowjets“ 1955, als Adenauer durch Verhandlungen knapp 10.000 Kriegsgefangene aus sowjetischer Gefangenschaft befreite („Heimkehr der Zehntausend), Herrn Kowalczyk auf eine Liste von 749 „Schwerst-Kriegverbrechern“ setzte, die Adenauer weiterhin in Deutschland einsperren musste, also nicht wie die Kriegsgefangenen aus den Lagern befreien konnte. So kam Herr Kowalczyk nach Bautzen ins „Gelbe Elend“.
Herr Kowalczyk wirft der Bundesregierung und Adenauer vor, dass sie das Spiel, ihn zu kriminalisieren und zum „Schwerst-Kriegverbrecher“ abzustempeln, mitgemacht haben. Das Gleiche warf er Vera Lengsfeld vor, weil sie davon sprach, dass sie als politisches Opfer gegen den Richter, der jetzt als Anwalt vonxder Gesellschaft praktisch rehabilitiert wurde, statt wegen seiner Unrechtsurteile eingesperrt zu werden, nichts unternehmen konnte.
Wir (Christoph B. und ich) versuchten, ihn zu beruhigen, und sagten ihm (das Puplikum konnte es hören), dass nicht Frau Lengsfels ihn kriminalisiert hat, als sie davon sprach, dass sie kriminalisiert wurde und der Richter dafür nicht belangt werden konnte.
Ich erklärte dem Publikum im Saal, dass das kommunistische Unrechtssystem politische Gegner nicht nur durch falsche Anwendung des Strafgesetzbuches kriminalisierte und ausschaltete wie Fau Lengsfeld, sondern dass die Ausschaltung auch dadurch gelang, dass Unrechtsparagraphen richtig angewendet wurden. Ich nannte zwei Beispiele:
„Ungesetzlicher Grenzübertritt“ – § 213 StGB/DDR und „Ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ – 219 StGB/DDR. Nach dem Unrechtsparagraphen 219 sei ich verurteilt wurden, als ich bei einer kirchlichen Veranstaltung „Fasten für das Leben“, an der auch Frau Lengfeld teilgenommen hatte, mit einer westdeutschen Journalistin Verbindung aufnahm, damit sie in ihrer Zeitung über mein Berufsverbot berichtet. Dass es Unrechtsparagraphen waren, sieht man daran, dass die letzte Volksammer diese Paragraphen abschaffte, als die DDR begann, ein Rechtsstaat zu werden.
Herr Kowalczyk bezeichnete Frau Lengsfelds Vortrag als Märchenstunde. Ich widersprach ihm:
Was Frau Lengsfeld vortrug, war meiner Meinung nach keine Märchenstunde, sondern ein persönlicher Bericht, sagte ich Herrn Kowalczyk. Darum habe ich ja versucht, mit meinem Kurzbericht Ergänzungen hinzuzufügen, indem ich sagte, dass es neben den „kriminellen“ Taten, die man Frau Lengsfeld zur Last legte, um sie politisch zu unterdrücken, auch rein politische Taten in der DDR gab: „Ungesetzlicher Grenzübertritt“ (Christoph B.) und „ungesetzliche Verbindungsaufnahme“ (ich). Man hätte auch Deine politischen (nicht kriminellen!) Taten der Vollständigkeit halber erwähnen können (oder müssen): angebliche „Spionage“, Verbreitung antisowjetischer Literatur (also Hetze) usw., sagte ich Herrn Kowalczyk.
Gerade weil Frau Lengsfeld bei ihrem Bemühen, die Wahrheit zu finden, zunächst vom kommunistischen Standpunkt ausging: Vater Stasi, Schwiegervater seit 1932 Kommunist und Widerstandskämpfer gegen die Nazis im Untergrund, und sie erkannte (SED, DDR-Bürgerrechtlerin, Bündnis90/Die Grünen, CDU, freischaffende Autorin, VOS-Mitglied), dass der Kommunismus vom Grundsatz her falsch ist, ist sie besonders befähigt, gegen den Kommunismus zu kämpfen. Insofern würde sie auch als VOS-Bundesvorsitzende geeignet sein.
Ich möchte Frau Lengsfeld an dieser Stelle bitten, dass sie vielleicht bei einer nächsten Buchlesung versucht, nicht nur ihre Erlebnisse zur Aufarbeitung der SED-Diktatur zu Grunde zu legen, sondern vielleicht auch die Lebensgeschichten anderer SED-Opfer bzw. Kämpfer gegen das kommunistische Unrechtssystem einzubinden, oder zumindest nicht ganz unerwähnt zu lassen, soweit sie die Lebensgeschichten kennt.
Verfasser K.