Hubertus Knabe: Von Rosa Luxemburg bis Erich Honecker – Klassischer Kommunismus in Deutschland
Von den beiden Spielarten totalitärer Herrschaft – Faschismus und Kommunismus – hat Deutschland nicht nur das nationalsozialistische Regime hervorgebracht. Auch die kommunistischen Diktaturen haben hier ihren Ursprung, waren es doch zwei Deutsche – Karl Marx und Friedrich Engels –, die die ideologischen Grundlagen dafür lieferten. In ihrem „Kommunistischen Manifest“ und weiteren massenwirksamen Schriften entwickelten sie die Vorstellung, dass die Geschichte der Menschheit eine Geschichte von Klassenkämpfen sei. Nur durch eine gewaltsame Revolution und eine Diktatur des Proletariats sei es möglich, eine klassenlose, freie Gesellschaft zu schaffen, in der jeder nach seinen Möglichkeiten und nach seinen Bedürfnissen leben könne. Wozu diese Idee im 20. Jahrhundert geführt hat, ist bekannt.
Deutschland galt aber auch politisch lange Zeit als Mutterland des Sozialismus. Es war nicht nur der am stärksten industrialisierte Staat Europas mit einer großen organisierten Arbeiterschaft, sondern verfügte auch über die stärkste kommunistische Bewegung. Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) war Anfang der 1920er Jahre die größte in ganz Europa. Nach ihrem Putsch im Oktober 1917 waren Lenin und die russischen Bolschewisten deshalb der festen Überzeugung, dass in Deutschland eine Revolution unmittelbar bevorstünde, ohne die ihre Herrschaft in Russland kaum Überlebenschancen hätte.
Der klassische Kommunismus in Deutschland gliedert sich in zwei Phasen: Die Zeit des Kampfes der Kommunisten um die Macht und die Phase des Kommunismus an der Macht – also ab 1945 im sowjetisch besetzten Deutschland. Zwar gab es noch eine Vielzahl anderer kommunistischer Strömungen (zum Beispiel die kommunistischen Splittergruppen in der Bundesrepublik der 1970er Jahre), doch der orthodoxe, in KPD und SED organisierte Kommunismus bildete dem historisch bedeutendsten Teil.
1. Der Kommunismus im Kampf um die Macht
Die Geschichte des organisierten Kommunismus in Deutschland beginnt wie in vielen Ländern am Ende des I. Weltkrieges. Radikale Sozialdemokraten, die sich zuvor im sogenannten Spartakusbund organisiert hatten, gründeten zur Jahreswende 1918/1919 als Reaktion auf die Novemberrevolution eine eigene Partei, die KPD. Während die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) nach der Abdankung des deutschen Kaisers im November 1918 ein demokratisch-parlamentarisches System errichten wollte, forderten die Kommunisten eine sogenannte Diktatur des Proletariats. In einem Aufruf vom Dezember 1918 schrieben sie, dass der Kampf um den Sozialismus der gewaltigste Bürgerkrieg der Weltgeschichte sei. Polizei und Offiziere müssten deshalb entwaffnet werden, alle männlichen Arbeiter an ihrer Stelle Waffen erhalten und zum Schutz der Revolution Milizen bilden. Die Hauptschuldigen am Krieg und alle Verschwörer der Gegenrevolution seien von einem Revolutionstribunal abzuurteilen. Banken, Bergwerke, Großbetriebe und alle größeren Ländereien sollten enteignet werden, die in Militärlagern und Fabriken entstandenen Arbeiter- und Soldatenräte an die Stelle der Parlamente treten. Statt der traditionellen Länder solle es einen sozialistischen Zentralstaat geben. Die Macht sollte nicht in den Händen einer vom Parlament gewählten Regierung liegen, sondern bei einem „Vollzugsrat“, der von den Räten eingesetzt werden und Oberstes Organ der vollziehenden und der gesetzgebenden Gewalt sein sollte. »In diesem letzten Klassenkampf der Weltgeschichte um die höchsten Ziele der Menschheit«, so endete der Aufruf, »gilt dem Feinde das Wort: Daumen aufs Auge und Knie auf die Brust!«
Diesen Forderungskatalog des Spartakusbundes machte die KPD vierzehn Tage später zu ihrem Parteiprogramm. Wäre er verwirklicht worden, hätte es im Deutschland der 1920er Jahre weder Rechtsstaat noch Demokratie gegeben. Stattdessen wäre ein großer Teil der Bevölkerung – Handwerker, Selbständige, Angestellte, Beamte, Hausfrauen usw. – von der politischen Mitwirkung ausgeschlossen und privates Eigentum in großem Umfang entschädigungslos enteignet worden. An die Stelle der für alle geltenden Gesetze wären willkürliche Entscheidungen von Räten und Milizangehörigen getreten. Auch Gewaltenteilung – also die Trennung von Gesetzgebung, Regierung und Justiz – hätte es nicht gegeben. Diese Diktatur des Proletariats, die der KPD zufolge nur gewaltsam zu erreichen wäre, war ihrer Ansicht nach nicht undemokratisch, sondern die »wahre« Demokratie – denn: »Nicht wo der Lohnsklave neben dem Kapitalisten, der Landproletarier neben dem Junker in verlogener Gleichheit sitzen, um über ihre Lebensfragen parlamentarisch zu debattieren; dort, wo die millionenköpfige Proletariermasse die ganze Staatsgewalt mit ihrer schwieligen Faust ergreift, um sie wie der Gott Thor seinen Hammer den herrschenden Klassen aufs Haupt zu schmettern: dort allein ist die Demokratie, die kein Volksbetrug ist.«
Das Programm der KPD hatte Rosa Luxemburg verfasst, die neben Karl Liebknecht die wichtigste Wortführerin des Spartakusbundes war. Sie genießt bis heute bei vielen den Ruf einer toleranten Demokratin, da die meisten nur einen einzigen Satz von ihr kennen: »Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden«. Doch anders als dieser suggeriert, hat sie nach dem Sturz des Kaisertums mit ganzer Kraft dafür gekämpft, die erste Demokratie auf deutschem Boden zu verhindern. Auch den berühmten Satz hat sie niemals veröffentlicht, denn er ist erst 1922, drei Jahre nach ihrem Tod, zum ersten Mal erschienen. Der Satz war auch gänzlich anders gemeint, als er zumeist verstanden wird. In dem Text, der in ihrem Nachlass gefunden wurde, setzte sie sich mit der russischen Revolution auseinander. Luxemburg begrüßte nachdrücklich den Putsch der Bolschewiki im Oktober 1917 und ließ keinen Zweifel daran, dass in Russland eine Diktatur errichtet werden müsse. Wenn das Proletariat die Macht ergreife, so schrieb sie, müsse es »sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff nehmen, also Diktatur ausüben«. Sie kritisierte allerdings Lenin und seine Genossen, weil diese das russische Parlament aufgelöst und sämtliche anderen Parteien verboten hatten – auch die sozialistischen. Das neue russische Wahlrecht sah zudem vor, dass in Zukunft nur noch Arbeiter und Bauern wählen dürfen sollten, die Presse- und Versammlungsfreiheit war abgeschafft. Luxemburg war demgegenüber der Meinung, dass man den Sozialismus nicht errichten könne, ohne das Volk zu beteiligen, weil auch die Revolutionspartei kein fertiges Rezept in der Tasche habe. Die Diktatur müsse eine Diktatur der Klasse sein und nicht die einer Partei oder einer Clique. An den Rand dieser Überlegungen notierte sie sich mit der Hand: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für Mitglieder einer Partei – mögen sie noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der ›Gerechtigkeit‹, sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen hängt und seine Wirkung versagt, wenn die ›Freiheit‹ zum Privilegium wird.« Der Ausspruch bedeutete also nicht, dass allen Menschen dieselben Freiheits- und Menschenrechte zustehen, sondern dass man die Diktatur des Proletariats nicht nur mit einer kleinen Gruppe von Berufsrevolutionären ausüben dürfe.
Im Gegensatz zu diesem in ihrem Nachlass gefundenen Manuskript ließ Luxemburg in der Öffentlichkeit nie ein kritisches Wort über den kommunistischen Terror in Russland verlauten. Freunde wie Clara Zetkin oder Alexander Warski sagten nach dem Erscheinen des Textes sogar, Luxemburg habe ihn gar nicht mehr veröffentlichen wollen, weil sie ihre ablehnende Meinung über die Bolschewiki geändert hätte. Tatsächlich erklärte der Spartakusbund unter ihrem Einfluss Ende 1918 ausdrücklich seine Solidarität mit Lenins und Trotzkis Gewaltpolitik. Die in Deutschland geplanten ersten freien Wahlen zur Nationalversammlung bezeichnete die KPD-Begründerin dagegen als »Attentat auf die Revolution und die Arbeiter- und Soldatenräte«. Angeblich dienten sie nur dazu, der Bourgeoisie »die Macht wieder in die Hände zu spielen«. Weil auch die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte mit überwältigender Mehrheit für die Durchführung von Wahlen stimmte, beschimpfte sie deren Delegierte als »williges Werkzeug der Gegenrevolution«. Ihr Aufruf »Alle Macht den Räten« galt nur so lange, wie diese ihren eigenen politischen Vorstellungen folgten.
Luxemburgs politischer Kampf richtete sich vor allem gegen die sozialdemokratischen Gründungsväter der Weimarer Republik, die sie als »Schildträger der Bourgeoisie«, »Konterrevolutionäre« oder »Judasse der Arbeiterbewegung« titulierte. Nicht Offiziere, Unternehmer oder Großgrundbesitzer, sondern die Führer der SPD waren für sie die »Todfeinde des Proletariats«. Sie rief deshalb dazu auf, die Regierung unter Friedrich Ebert und Philipp Scheidemann durch Streiks, Demonstrationen und bewaffnete Aktionen zu stürzen. »Soll die Revolution weiter ihren Gang gehen«, schrieb Luxemburg im Januar 1919 im KPD-Organ Rote Fahne, »dann muss die Mauer, die sich ihr entgegenstellt, die Regierung Ebert-Scheidemann, hinweggeräumt werden.«
Luxemburg und ihr Mitstreiter Liebknecht beließen es aber nicht dabei, die Sozialdemokraten verbal zu attackieren. Im Januar 1919 unternahm die KPD vielmehr den Versuch, die von den Räten unterstützte Ebert-Regierung wie in Russland mit Gewalt zu stürzen. Zusammen mit Teilen der Berliner Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und den revolutionären Obleuten der hauptstädtischen Großbetriebe besetzten ihre Anhänger zu diesem Zweck das Polizeipräsidium der Reichshauptstadt. Auch verschiedene Zeitungsgebäude – darunter das des sozialdemokratischen Vorwärts – wurden gestürmt, um die öffentliche Meinung unter Kontrolle zu bekommen. Unter Führung von Liebknecht und zwei weiteren Vertretern bildete man zudem einen Revolutionsausschuss, der – wie in Russland unter Lenin – die wichtigsten Gebäude in Berlin besetzen und die Regierung verhaften wollte. In einer von Liebknecht unterschriebenen Erklärung hieß es, Ebert und sein Kabinett seien abgesetzt, statt ihrer habe nun der Revolutionsausschuss die Regierungsgeschäfte übernommen.
Im Gegensatz zu Luxemburg kritisierte Liebknecht nicht einmal hinter vorgehaltener Hand die Gleichschaltungspolitik der russischen Kommunisten. Zusammen mit dem späteren DDR-Präsidenten Wilhelm Pieck wollte er vielmehr im Januar 1919 auch in Deutschland eine Sowjetrepublik errichten. Schon auf dem Gründungsparteitag der KPD hatte er erklärt, »dass wir entschlossen sind, die eiserne Faust zu erheben und auf jeden niederzuschmettern, der der sozialen Revolution des Proletariates Widerstand entgegensetzt«. Er begrüßte auch die Ausführungen eines Delegierten, der betonte, er sei »der erste, der bereit ist, wenn ein Revolutionstribunal Scheidemann und Ebert zum Aufknüpfen verurteilt, Bravo zu rufen«.
Liebknechts Putschversuch im Januar 1919 endete jedoch in einem Fiasko. Die Massen, die Luxemburg zufolge bereit gewesen waren, »jede revolutionäre Aktion zu unterstützen« und »für die Sache des Sozialismus durch Feuer und Wasser zu gehen«, folgten ihren selbst ernannten Führern nicht. Die Soldaten, die die Regierung verhaften sollten, erklärten sich für neutral. Nicht nur die USPD-Zentrale, sondern auch die Mehrheit der Berliner Arbeiter forderten in Belegschaftsversammlungen und bei einer Demonstration ein Ende des Bruderkrieges, der bereits zahlreiche Tote und Verletzte zur Folge gehabt hatte. Luxemburgs Verachtung richtete sich nun nicht mehr nur gegen die SPD, sondern auch gegen die sozialistische USPD, die sie als »verwesenden Leichnam« bezeichnete, »dessen Zersetzungsprodukte die Revolution vergiften« und deren »Liquidierung« notwendig sei. Entschieden verwahrten sie und Liebknecht sich gegen jedes »Zurückweichen«. Das von ihnen herausgegebene KPD-Organ Rote Fahne rief stattdessen zum Generalstreik auf und zu bewaffneter Gegenwehr. Auch der Revolutionsausschuss forderte: »Zeigt den Schurken Eure Macht. Bewaffnet Euch. Gebraucht die Waffen gegen Eure Todfeinde, die Ebert-Scheidemann.«
Da die Putschisten nicht aufgeben wollten, rief die sozialdemokratische Regierung nach einigen Tagen Soldaten zu Hilfe. Mit militärischer Gewalt wurden die besetzten Gebäude geräumt, wobei es zu vielen Todesopfern kam. Insgesamt kostete der sogenannte Spartakusaufstand 165 Menschen das Leben. Doch Luxemburg, die selber nicht aktiv daran teilgenommen hatte, verteidigte weiter die Aktion und deutete die Niederlage – ein Wort, das sie nur in Anführungszeichen benutzte – nachträglich in einen Sieg um. Die Niederlage sei, so schrieb sie pathetisch in der Roten Fahne, der »Stolz und die Kraft des internationalen Sozialismus«, aus der »der künftige Sieg erblühen« werde. Auch Liebknecht verklärte die kommunistische Erhebung in einem merkwürdigen Blut-und-Boden-Vokabular: »Die Besiegten der blutigen Januarwoche, sie haben ruhmvoll bestanden; sie haben um Großes gestritten, ums edelste Ziel der leidenden Menschheit, um geistige und materielle Erlösung der darbenden Massen; sie haben [ihr] Heiliges Blut vergossen, das so geheiligt wurde.«
In den Augen der SPD-Regierung hatten sich die Führer der KPD mit ihrem Putschversuch als Hauptfeinde der mühsam erkämpften Demokratie erwiesen. Polizei und Militär suchten deshalb nach den Verantwortlichen des Aufstands, die irgendwo in Berlin untergetaucht waren. Am 15. Januar 1919 wurden Luxemburg und Liebknecht entdeckt und gefangen genommen. Angehörige der Gardekavallerie-Schützendivision töteten sie bei ihrer Überführung in das Untersuchungsgefängnis. Die Ermordung der beiden Kommunistenführer war ein Verbrechen, der spätere Prozess gegen die Verantwortlichen eine Farce. Doch die Saat, die hier aufgegangen war, hatten sie selbst gesät, denn immer wieder hatten Luxemburg und Liebknecht erklärt, dass ihre politischen Vorstellungen nur in einem Bürgerkrieg durchgesetzt werden könnten. Und in der Praxis hatten sie keine Skrupel gehabt, Waffen einzusetzen und auf Menschen schießen zu lassen; nun waren sie selbst zu Opfern ihrer Gewaltpolitik geworden.
Die Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 endeten mit einem überwältigenden Sieg der demokratischen Parteien. Doch die KPD, die sie boykottiert hatte, versuchte, das parlamentarische System weiterhin durch Aufstände, Streiks und Demonstrationen wieder zu beseitigen. Die Nationalversammlung musste deshalb sogar ihre Beratungen nach Weimar verlegen, um in Ruhe die neue deutsche Verfassung verabschieden zu können. Auch nach ihrem Inkrafttreten versuchte die KPD immer wieder, die junge Republik mit Gewalt zu beseitigen. Was die Kommunisten von der Demokratie hielten, illustriert ein Wahlplakat der KPD von 1920, auf dem eine rote Faust aufs Parlament niederdonnert – so dass die Abgeordneten, die als Juden und Kapitalisten karikiert sind, ängstlich auseinanderlaufen.
Bereits kurz nach ihrer Gründung hatte die KPD etwa 100 000 Mitglieder. Wenig später wurde sie zu einer Massenorganisation, nachdem sie sich mit der USPD vereinigt hatte. Die USPD hatte sich schon 1917 von der SPD abgespalten, weil ihre Mitglieder für einen sofortigen Friedensschluss und eine radikale politische Umwälzung eintraten. Bei den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar 1919 erzielte sie mehr als sieben, bei den Reichstagswahlen im Juni 1920 sogar fast 18 Prozent. Im Dezember 1920 schloss sich die Mehrheit der USPD (etwa 350 000 Mitglieder) mit der KPD zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands (VKPD) zusammen, die anschließend fast immer zweistellige Wahlergebnisse erzielte.
Die KPD wurde früh zu einer bolschewistischen Kaderpartei. Als Mitglied der Kommunistischen Internationale (Komintern) hatte sie vorbehaltlos den Anweisungen der russischen Führung zu folgen. Ihre Aufstandsversuche von 1921 und 1923 wurden auf direkten Befehl Moskaus durchgeführt.
Mit Ernst Thälmann stand seit 1925 ein ungelernter Arbeiter an der Spitze der Partei. Der stämmige Mann mit bescheidenem Intellekt verdankte seinen Aufstieg vor allem der Tatsache, dass er sich als williges Werkzeug Stalins erwies. 1923 hatte er den Hamburger Aufstand organisiert, der mehr als hundert Menschen das Leben kostete. Zwei Jahre später bewirkte er mit seiner Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten, dass der Monarchist Paul von Hindenburg die Wahl gewann – der Mann, der Hitler 1933 zum Reichskanzler ernannte. Obwohl ohne Chancen, trat Thälmann damals auch im zweiten Wahlgang an, so dass der Kandidat der republiktreuen Parteien die Mehrheit knapp verfehlte. Es sei nicht Aufgabe des Proletariats, begründete die Rote Fahne damals seine Kandidatur, den »geschicktesten Vertreter der Bourgeoisieinteressen auszusuchen«.
Der Ausbruch der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 brachte die Weimarer Republik nach einer Zeit der Stabilisierung erneut in große Gefahr. Die republikfeindlichen Kräfte erhielten wieder erheblichen Auftrieb. Bei den Reichstagswahlen im September 1930 konnte die NSDAP die Zahl ihrer Abgeordneten von 12 auf 107 vergrößern. Sie war damit auf einen Schlag zur zweitstärksten politischen Kraft geworden. Im Juli 1932 errang sie sogar 230 Sitze und überflügelte mit 37,4 Prozent sämtliche anderen Parteien. Auch die KPD-Fraktion wuchs kontinuierlich an: von 54 Abgeordneten (1928) auf 77 (1930), 89 (Juli 1932) und schließlich auf 100 Abgeordnete (November 1932); seit 1930 war sie drittstärkste Kraft im Parlament. Ab den Juli-Wahlen 1932 verfügten NSDAP und KPD zusammen über die absolute Mehrheit im Reichstag und konnten dadurch jede demokratische Regierungsbildung blockieren. »Schluss mit diesem System« forderten die Kommunisten jetzt auf ihren Wahlplakaten.
Die Politik der KPD in dieser Zeit trug entscheidend dazu bei, Hitler an die Macht zu bringen. Statt die schwachen demokratischen Kräfte zu unterstützen, bekämpfte sie sie durch parlamentarische Obstruktion und radikalen Protest. Im Auftrag Moskaus bereitete sie sich auf eine gewaltsame Erhebung vor, während ihr das Parlament nur als politische Bühne diente. Mit Streiks und Demonstrationen, mit Propaganda und Gewalt versuchte sie, die Weimarer Republik sturmreif zu schießen – im wahrsten Sinne des Wortes, denn jeder Wahlkampf kostete Dutzende Tote. Traurige Berühmtheit erlangte der Doppelmord auf dem Berliner Bülowplatz, bei dem der spätere Chef des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit Erich Mielke 1931 zwei Polizisten erschoss.
Die Zerrüttungstaktik der KPD unterminierte die Weimarer Republik auf mehrfache Weise. Einerseits schürte die Partei die Ablehnung der Demokratie durch die ohnehin wenig republikfreundliche Bevölkerung. Gleichzeitig taten ihre Abgeordneten alles, um eine funktionsfähige Regierung zu verhindern. Drittens schwächte die KPD die zivilen Widerstandskräfte gegen die aufziehende Diktatur, indem sie die Gewerkschaften – die die Republik beim sogenannten Kapp-Putsch 1920 mit einem Generalstreik gerettet hatten – durch eine Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) spaltete. Schließlich verstärkte sie mit ihrem klassenkämpferischen Auftreten die Furcht vor einem kommunistischen Aufstand und einem Terrorregime wie in der Sowjetunion, so dass vor allem der Mittelstand in die Hände Hitlers getrieben wurde. NSDAP und KPD agierten wie feindliche Brüder, die sich zwar blutige Schlachten lieferten, aber beide die Krise zu verschärfen suchten.
Besonders verheerend wirkte sich aus, dass die KPD nicht die NSDAP, sondern nach wie vor die Sozialdemokraten als Gegner Nr. 1 betrachtete, die stereotyp als »Sozialfaschisten« attackiert wurden. Angeblich hinderten sie im Auftrag der »Reaktion« die Arbeiter in Deutschland an der Revolution, um selbst ein faschistisches Regime zu errichten. Thälmann beschuldigte die SPD überdies, der »treibende Faktor in der Linie der Kriegsvorbereitungen gegen die Sowjetunion« zu sein, weshalb »der Kampf gegen den imperialistischen Krieg ein Kampf gegen die Sozialdemokratie« sei. Auch das besorgniserregende Erstarken der Nationalsozialisten veranlasste die KPD nicht zu einem Kurswechsel. Thälmann verlangte vielmehr weiterhin, dass man den »Hauptstoß« gegen die Sozialdemokratie richten müsse. Noch im Februar 1932 erklärte er, dass die SPD die »gefährlichste Stütze der Feinde der Revolution«, die »soziale Hauptstütze der Bourgeoisie« und »der aktivste Faktor der Faschisierung« sei. Er zog daraus den Schluss: »Die Sozialdemokratie schlagen, das ist gleichbedeutend damit […], die proletarische Revolution zu schaffen.«
Der Bekämpfung der Sozialdemokratie entsprach die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Die KPD vernebelte die heraufziehende Gefahr, indem sie auch alle anderen politischen Kräfte als faschistisch bezeichnete. So erklärte ihr Politbüro im Juni 1930, dass sich der Faschismus »keinesfalls auf die faschistischen Kampf- und Mordorganisationen, die Nationalsozialisten, den Stahlhelm usw.« beschränke. Er schließe vielmehr auch »alle wichtigen bürgerlichen Parteien« ein sowie die »sozialfaschistischen Agenten« des bürgerlichen Staatsapparates – womit die SPD-orientierten Beamten gemeint waren. Der spätere SED-Chef Ulbricht behauptete im Dezember 1930 sogar, dass in Deutschland bereits ein faschistisches Regime existiere: »Die faschistische Diktatur wird ausgeübt durch stärkste Zentralisation und Militarisierung der Staatsgewalt und stärksten Ausbau des Unterdrückungsapparates der Bourgeoisie mit Hilfe der faschistischen Organisationen und der Einspannung des sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftsapparates und anderer Organisationen in den Dienst der faschistischen Diktatur.«
Liest man die damalige Agitation der KPD, so hat man den Eindruck, dass sie nichts sehnlicher erwartete als das Ende der ersten deutschen Demokratie. Den Aufstieg der NSDAP wertete sie deshalb als positive Entwicklung. So hieß es in einer Resolution vom Juni 1930: »Das stärkere Hervortreten des Faschismus in der gegenwärtigen Periode ist keinesfalls ein Zeichen des Rückgangs der proletarischen Bewegung, sondern im Gegenteil die Kehrseite des revolutionären Aufschwungs, die unvermeidliche Begleiterscheinung des Heranreifens einer revolutionären Situation.« Noch im Februar 1932, als die NSDAP bereits zweitstärkste politische Kraft in Deutschland war, warnte Thälmann vor einer »Panikstimmung«, die die SPD »künstlich in den Massen zu erzeugen« versuche. »Nichts wäre verhängnisvoller als eine opportunistische Überschätzung des Hitlerfaschismus.« Den Ausgang der Wahlen im November 1932, bei denen die NSDAP zwei Millionen Stimmen verlor, während die KPD 700 000 dazugewann, betrachtete man als Bestätigung dieser These.
In ihrer Propaganda wies die KPD zum Teil frappierende Ähnlichkeiten mit den Nationalsozialisten auf. So versprach sie in ihrem Wahlprogramm vom August 1930, den Versailler Vertrag zu zerreißen und Deutschlands internationale Schulden und Reparationen zu annullieren. Das Papier trug den bezeichnenden Titel »Programmerklärung zur nationalen und sozialen Befreiung des deutschen Volkes«. In ihrer Ablehnung der Friedensregelungen bildeten NSDAP, KPD und Deutschnationale eine gemeinsame ideologische Front. Die KPD-Fraktion beantragte auch im Reichstag, die Zahlungen an die Siegermächte einzustellen und aus dem Völkerbund auszutreten. Anschließend kritisierte Thälmann die Nationalsozialisten, dass sie dem kommunistischen Antrag nicht zugestimmt hätten. Mit ihrer aggressiven Agitation trieben sie die republiktragenden Parteien vor sich her, denen es immer schwerer fiel, die Vertragserfüllung durch Deutschland gegenüber der Bevölkerung zu verteidigen.
Wenn nötig, machte die KPD auch gemeinsame Sache mit den Nationalsozialisten. Im Juli 1931 unterstützte sie im größten Bundesstaat Preußen einen Volksentscheid für vorgezogene Neuwahlen, der auf ein Volksbegehren von NSDAP, Deutschnationalen und Stahlhelm zurückging. Auf diese Weise sollte die Koalitionsregierung unter dem SPD-Ministerpräsidenten Otto Braun gestürzt werden. Der Volksentscheid scheiterte zwar, doch bei den Wahlen im April 1932 verlor die Koalition ihre Mehrheit. Weil die KPD sich weigerte, die geschäftsführend im Amt gebliebene preußische Regierung zu tolerieren, erklärte die Reichsregierung sie für abgesetzt, so dass der wichtigste republiktreue Machtfaktor in Deutschland ausgeschaltet wurde. Kurz vor den letzten freien Reichstagswahlen im November 1932 organisierten Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam einen illegalen Streik der Berliner Verkehrsarbeiter. Selbst von einer Machtergreifung Hitlers versprach man sich Vorteile. So erklärte Dmitri Manuilski, Stalins Sprachrohr im Exekutivkomitee der Komintern, im September 1932, »die Machtübernahme Hitlers bedeute eine neue Verschärfung der Widersprüche von Versailles, eine ungeheure Zuspitzung der europäischen Beziehungen, was wiederum das Heranreifen der revolutionären Krise in Mitteleuropa beschleunigen würde«.
An einen gemeinsamen Kampf gegen die NSDAP oder wenigstens eine Art Stillhalteabkommen bis zur Beseitigung der nationalsozialistischen Gefahr war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Die Kommunisten propagierten zwar in letzter Minute eine »Einheitsfront« gegen die Nationalsozialisten, doch sollte sich diese auch gegen die »rechten« SPD-Führer richten und in eine »Arbeiter- und Bauernrepublik« münden. Der Kurswechsel kam nicht nur zu spät, sondern stieß bei der SPD verständlicherweise auf wenig Gegenliebe. Wie viel davon zu halten war, zeigte sich im Februar 1933, als die KPD ein Angebot der SPD zurückwies, einen Nichtangriffspakt zwischen beiden Parteien abzuschließen.
Auch nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler im Januar 1933 hielt die KPD an ihrer Linie fest. Auf der letzten, bereits heimlich durchgeführten Tagung des ZK im Februar 1933 erklärte Thälmann, dass dadurch eine »Zuspitzung des Klassenkampfes« eingetreten sei. Die KPD erwartete – trotz Hitler – die baldige Revolution. Thälmann sprach sogar von einer »wachsenden Kampfkraft« der Partei und der Arbeiterklasse und rügte unverändert die Mängel im »prinzipiellen Kampf gegen die sozialdemokratischen Betrugsmanöver«. Selbst nach dem Reichstagsbrand, dem Verbot der KPD und der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes erklärte der deutsche Vertreter im Exekutivkomitee der Komintern, Fritz Heckert, im April 1933, dass die offene Gewaltanwendung der Bourgeoisie »ein sehr wichtiger Schritt zum Heranreifen der revolutionären Krise im Zentrum Europas« sei, was sich unter anderem darin zeige, dass die deutsche Sozialdemokratie »jetzt offen auf die Seite der Faschisten übergegangen ist«. Noch zwei Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ging die KPD von einem »revolutionären Aufschwung« in Deutschland aus.
In Wirklichkeit fiel die größte kommunistische Partei Europas 1933 wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Ihre militante Rhetorik erwies sich als hohl, ihr riesiger Apparat als handlungsunfähig, ihre zentralistische Organisation als leicht zu zerschlagen. In Deutschland kam es weder zu Massenstreiks noch zu bewaffnetem Widerstand, geschweige denn zur prophezeiten »revolutionären Krise«, die zur kommunistischen Machtergreifung führen sollte. Stattdessen saßen bald Tausende KPD-Funktionäre in Haft, weil sie nicht auf die Illegalität vorbereitet waren. Bereits im März 1933 wurde der leichtsinnige Thälmann entdeckt und in »Schutzhaft« genommen. Während seiner elfjährigen Gefangenschaft startete niemand einen ernsthaften Versuch, ihn zu befreien. Selbst Stalin unternahm nichts für seine Freilassung, obwohl er während seines Freundschaftspaktes mit Hitler durchaus hätte erreichen können, dass er in die Sowjetunion abgeschoben würde. Doch Thälmanns engste Mitarbeiter waren in Moskau inzwischen entmachtet, einige sogar ermordet worden, und sein Rivale Ulbricht hatte kein Interesse daran, dass er freikam. Der Mann, der die Weimarer Republik so kompromisslos bekämpft hatte, fiel ihrer Abschaffung am Ende selbst zum Opfer: Im August 1944 ließ Hitler ihn im KZ Buchenwald exekutieren.
Doch Stalin wütete unter den deutschen Kommunisten nicht weniger grausam: 1935 hatte die KPD unter ihrem neuen Vorsitzenden Wilhelm Pieck ihren Sitz nach Moskau verlegt. Dort erfuhren die aus Deutschland geflüchteten Kader bald am eigenen Leibe, was kommunistische Gewaltpolitik bedeuten konnte. In der »größten Kommunistenverfolgung der Geschichte«, wie der Historiker Hermann Weber den stalinistischen Terror in der Sowjetunion bezeichnete, kamen mehr Politbüromitglieder ums Leben als in Hitler-Deutschland. Zwei Drittel aller KPD-Emigranten wurden hingerichtet, verschwanden im Gulag oder wurden, wie die Publizistin Margarete Buber-Neumann, im Zuge des Hitler-Stalin-Paktes an Deutschland ausgeliefert. Wer wie Pieck und der neue starke Mann Walter Ulbricht die Säuberungen überlebte, hatte zahllose Mitstreiter denunziert und sich vor Stalin extrem erniedrigen müssen – entsprechend zynisch war das Menschen- und Gesellschaftsbild dieser Funktionäre.
2. Der Kommunismus an der Macht
Zwölf Jahre nach Hitlers Machtübernahme erhielt die KPD endlich die Chance, die kommunistische Ideologie in praktische Politik umzusetzen. Nach der Zerschlagung des NS-Regimes kehrten die kommunistischen Funktionäre – soweit sie nicht ermordet worden waren – in das politische Leben zurück. Noch während des Krieges hatte sich die KPD-Führung auf ihre Rückkehr nach Deutschland vorbereitet. Auf Stalins Anweisung verlangte sie jetzt keine Revolution mehr, sondern vertrat eine Art linkssozialistisches Reformprogramm. Statt der Diktatur des Proletariats forderte sie nur noch die Enteignung der Kriegsschuldigen und der Großbauern, die Kontrolle der Wirtschaft durch den Staat, die Säuberung der Verwaltung und des Bildungswesens sowie die Umerziehung des Volkes zur Demokratie. Die Zurückhaltung diente dazu, die nach wie vor virulente Angst vor einer kommunistischen Machtergreifung zu zerstreuen und der KPD in Deutschland bessere Wirkungsmöglichkeiten zu eröffnen. Was Stalin wirklich wollte, erklärte er 1944 dem jugoslawischen KP-Funktionär Milovan Djilas: »Dieser Krieg ist nicht wie in der Vergangenheit; wer immer ein Gebiet besetzt, erlegt ihm auch sein eigenes gesellschaftliches System auf.«
Um dies zu bewerkstelligen, wurden Ulbricht und eine kleine Gruppe von Genossen noch vor Kriegsende nach Deutschland eingeflogen. Von einem brandenburgischen Feldflugplatz brachte man sie am 30. April 1945 zu Sowjetmarschall Georgi Schukow, mit dessen Unterstützung sie weiter nach Berlin gelangten. Anfang Juni kehrte auch Pieck zurück, begleitet von weiteren Funktionären sowie von nationalsozialistischen Wehrmachtsoffizieren, die in »Antifa-Schulen« umgedreht worden waren. Wie die Kommunisten vorgingen, hat Wolfgang Leonhard, Mitglied der sogenannten Gruppe Ulbricht, später genau beschrieben. »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten«, hatte Ulbricht seine Mitarbeiter angewiesen. Die KPD-Kader sollten zunächst nur die Schlüsselpositionen in Verwaltung, Polizei, Bildung und Medien besetzen. Erst nach und nach wollte man die ganze Macht übernehmen. Ulbrichts ungarischer Kollege Mátyás Rákósi erfand dafür den griffigen Ausdruck »Salamitaktik«: Nicht schlagartig, sondern scheibchenweise sollten die übrigen politischen Kräfte vernichtet werden.
Eigentlich wollten viele SPD- und KPD-Anhänger damals eine gemeinsame Arbeiterpartei gründen. Stalin wies Ulbricht jedoch an, zunächst den kommunistischen Apparat wiederaufzubauen – und sich erst später die Sozialdemokraten einzuverleiben. Die KPD veröffentlichte deshalb am 11. Juni 1945 als erste Partei ihren Gründungsaufruf. Er war, wie man heute weiß, bereits Tage vorher bei einem Geheimtreffen in Moskau beschlossen worden. Sogar die Reihenfolge der Unterzeichner – von denen viele davon gar nichts wussten – hatte man in Moskau festgelegt. Um der KPD einen Startvorteil zu verschaffen, organisierte Ulbricht schon die Verbreitung des Textes, als Parteien noch gar nicht zugelassen waren. Der Aufruf enthielt ein beinahe bürgerliches Reformprogramm: Die KPD forderte, die Sache der bürgerlich-demokratischen Umbildung von 1848 zu Ende zu führen. Es sei falsch, »Deutschland das Sowjetsystem aufzuzwingen«. Freier Handel und private Unternehmerinitiative sollten sich völlig ungehindert entfalten können, eine »parlamentarisch-demokratische Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk« sollte entstehen. Es war viel von Demokratisierung die Rede, vom Kampf gegen Arbeits- und Obdachlosigkeit, von der Verstaatlichung der Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke – kein Wort aber vom totalen Umbau der Gesellschaft.
Drei Jahre später herrschte in Deutschland eine kommunistische Diktatur. Mit Hilfe der Besatzungsmacht hatte man diese ebenso zielstrebig wie brutal durchgesetzt. Soldaten der Roten Armee hatten schon beim Einmarsch in Deutschland in einem grausamen Rachefeldzug deutlich gemacht, wer nun die Macht besaß. Zehntausende Zivilisten wurden liquidiert, rund zwei Millionen Frauen und Mädchen vergewaltigt, ein Großteil der vom Krieg verschonten Anlagen und Gebäude sinnlos verwüstet. Gleich hinter der kämpfenden Truppe kamen die Verbände des sowjetischen Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (NKWD), die in allen besetzten Gebieten Massenverhaftungen vornahmen. Allein aus den deutschen Ostgebieten verschleppten sie über 150 000 Zivilisten zur Zwangsarbeit in die UdSSR. Etwa ebenso viele kamen in der sowjetischen Besatzungszone in sogenannte Speziallager, in denen ein Drittel der Gefangenen starb. Insgesamt kamen in den von der Roten Armee eroberten Gebieten etwa 2,5 Millionen Deutsche ums Leben – auf der Flucht, durch Vertreibung oder Verschleppung.
Mit Entnazifizierung, wie später behauptet wurde, hatte dieser Terror nichts zu tun. Als die Alliierten auf der Potsdamer Konferenz im August 1945 vereinbarten, Nazi-Führer und hohe Amtsträger zu internieren, saßen in der sowjetischen Besatzungszone bereits 70 000 Menschen in Lagern – meist kleine NSDAP- und HJ-Funktionäre, deren Festnahme auch nach den Potsdamer Beschlüssen nicht vorgesehen war. In Wirklichkeit beruhten die Verhaftungen auf einem NKWD-Befehl vom Januar 1945, der die »Säuberung des Hinterlandes der Roten Armee von feindlichen Elementen« verlangte. Neben Spionen, Diversanten und ähnlichen Personen sollten sämtliche Bürgermeister, Verwaltungsleiter, Unternehmenschefs, Journalisten, Mitglieder nationalsozialistischer Organisationen sowie »sonstige feindliche Elemente« verhaftet werden. Weil viele für die vorgesehene Zwangsarbeit untauglich waren, wurde der Befehl im April 1945 etwas abgeschwächt. Ausgerechnet der harte Kern des NS-Regimes – SS- und SA-Angehörige und das Personal von Gestapo, Sicherheitsdienst, Gefängnissen und Konzentrationslagern – fiel nicht unter die Säuberungen, da sie bei den Sowjets als »Kriegsgefangene« galten. Bis zur Schließung der Lager im Februar 1950 unternahm die Besatzungsmacht keinerlei Anstrengungen, mögliche NS-Verbrecher herauszufiltern und abzuurteilen.
In Wahrheit diente der Terror dazu, den Boden für die neue Diktatur zu bereiten. Ähnliche Säuberungen hatte der NKWD auch in anderen sowjetisch besetzten Staaten durchgeführt, auch solchen, die zu den Opfern des Nationalsozialismus zählten. Die Angst vor Verhaftung wirkte wie ein lähmendes Gift. Jeder wusste, dass man sich mit den Besatzern tunlichst nicht anlegte. Die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD) kontrollierte mit bis zu 50 000 Mitarbeitern das gesamte politische, wirtschaftliche und soziale Leben. Ihre Maßnahmen ergingen entweder direkt durch Befehl oder verdeckt über die KPD, die immer mehr eine bestimmende Rolle spielte. Schon bald konnten Stalins Statthalter es sich leisten, nur noch dann einzugreifen, wenn sich ihre deutschen Helfershelfer nicht allein durchzusetzen vermochten.
Unter dem Vorwand, die Wurzeln des NS-Regimes zu beseitigen, kam es zu massiven Änderungen in Wirtschaft und Gesellschaft. Bereits im Juli 1945 wurden sämtliche Banken geschlossen und ihr Vermögen beschlagnahmt. Zwei Monate später begann die entschädigungslose Enteignung aller Bauern mit mehr als hundert Hektar Land. Ab November wurden – durch einen propagandistischen Volksentscheid in Sachsen nachträglich »legitimiert« – fast 10 000 Betriebe enteignet, während die wichtigsten Großbetriebe sowjetisches Staatseigentum wurden. 1948 erwirtschaftete der Staatssektor bereits 60 Prozent der Produktion. Mit der Aufstellung des ersten Zweijahresplanes begann damals die Planwirtschaft.
Die Gleichschaltung des politischen Systems erfolgte in ähnlichem Tempo. Außer der KPD hatte die sowjetische Besatzungsmacht nur noch drei weitere Parteien zugelassen: CDU, SPD und die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD). Sie alle mussten einer »Einheitsfront der antifaschistisch-demokratischen Parteien« beitreten, in der eine politische Opposition nicht möglich war. Die Parteien hatten ihre Artikel, Reden oder Versammlungen vorab genehmigen zu lassen und den Anweisungen der Militäradministration in jedem Fall Folge zu leisten. Wer sich nicht fügte, wurde abgesetzt oder kurzerhand festgenommen. Schon im Dezember 1945 wurden die CDU-Vorsitzenden Walther Schreiber und Andreas Hermes zum Rücktritt gezwungen. Zwei Jahre später mussten auch ihre Nachfolger Jakob Kaiser und Ernst Lemmer gehen. Der Fraktionsgeschäftsführer der CDU in Sachsen-Anhalt, Ewald Ernst, wurde 1947 trotz Abgeordnetenimmunität verhaftet. Über anderthalb Jahre saß er in einem fensterlosen Verlies im Kellergefängnis von Berlin-Hohenschönhausen, bis ihn ein Militärtribunal zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilte. In Thüringen traf es den Fraktionschef der Liberalen, Hermann Becker, in Brandenburg den LDPD-Parteivorsitzenden Wilhelm Falk. Meist war es die kommunistisch kontrollierte deutsche Polizei, die die Opfer an die sowjetische Geheimpolizei auslieferte. Tausende Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberale kamen seinerzeit in Haft oder wurden hingerichtet, die übrigen flohen in den Westen oder passten sich an. Fünf Jahre nach dem Ende des NS-Regimes waren die Parteien gleichgeschaltet.
Von der SPD, der unliebsamen Konkurrenz unter den Arbeitern, blieb nicht einmal der Name übrig. Um eine Niederlage der KPD bei den Landtagswahlen abzuwenden, drängte die Besatzungsmacht darauf, die SPD zu beseitigen. Trotz ständiger Benachteiligung hatten die Sozialdemokraten bereits mehr Mitglieder als die Kommunisten. Im Januar 1946 forderte Stalin die KPD ultimativ auf, sich bis zum 1. Mai mit der SPD zu vereinen. An der Basis inszenierte man dazu eine aufwendige Propagandakampagne, die »Einheit der Arbeiterklasse« herzustellen. Gegner der Verschmelzung wurden eingeschüchtert, Befürworter erhielten Posten und Vergünstigungen. Die anfänglich ablehnende SPD-Führung unter Grotewohl kapitulierte schließlich unter dem Druck, obwohl die West-SPD sie beschwor, die Partei lieber aufzulösen, als sie den Kommunisten zu übergeben. Im März und April 1946 vereinigten sich KPD und SPD zunächst auf Kreis- und Landesebene. Nur in West-Berlin, das von den westlichen Alliierten kontrolliert wurde, durfte eine Urabstimmung stattfinden, bei der 82 Prozent gegen den sofortigen Zusammenschluss stimmten. Gleichwohl wurde die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) am 21. und 22. April 1946 auf einem gemeinsamen Parteitag von KPD und SPD in Berlin gegründet.
Die vereinbarte Gleichberechtigung von Kommunisten und Sozialdemokraten stand nur auf dem Papier. Obwohl mehr als die Hälfte der 1,2 Millionen Mitglieder aus der SPD kam, saßen im Funktionärsapparat zum großen Teil KPD-Genossen. Bald wurde die »Einheitspartei« in eine stalinistische Kaderorganisation (rück)verwandelt. Bereits auf ihrem II. Parteitag im September 1947 forderte Ulbricht, sie in eine »Partei neuen Typus« nach dem Vorbild der Kommunistischen Partei der Sowjetunion umzuformen. Im Juli 1948 beschloss der Parteivorstand ihre »Säuberung von feindlichen und entarteten Elementen«. Im Januar 1949 bekannte sich die SED zum Marxismus-Leninismus sowie zum Demokratischen Zentralismus, bei dem die Parteispitze alle wichtigen Entscheidungen trifft, denen sich die Mitglieder bedingungslos unterzuordnen haben. Die SED verurteilte jetzt jede Art von »Sozialdemokratismus« und bekannte sich vorbehaltlos zur Führungsrolle der Sowjetunion.
Auch diese Gleichschaltung wurde brutal durchgesetzt. Tausende Sozialdemokraten wurden verhaftet, über 450 nachweislich zu langen Haftstrafen verurteilt. Oft reichte es aus, dass sie Kontakt zu Parteifreunden im Westen gehalten hatten, um sie – unter Bezug auf den damaligen Vorsitzenden der West-SPD, Kurt Schumacher – als »Schumacher-Agenten« abzuurteilen. Julius Scherff zum Beispiel, Mitglied des Berliner SPD-Vorstands, wurde im Juni 1946 verhaftet, weil er sich gegen die Vereinigung mit der KPD ausgesprochen hatte. Er kam in das ehemalige KZ Sachsenhausen, in dem er schon zur NS-Zeit eingesessen hatte und wo er 1948 starb. Auch Willy Jesse, stellvertretender Landesvorsitzender der SPD in Mecklenburg-Vorpommern, landete 1946 in dem Lager, in dem unter sowjetischer Verwaltung etwa 12 000 Menschen zugrunde gingen. Nach vierjähriger Lagerhaft wurde er zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion verschleppt. Frank Haufe, stellvertretender Landesvorsitzender der SPD in Sachsen, wurde 1948 verhaftet, zwei Jahre später zum Tode verurteilt und dann zu 25 Jahren Arbeitslager »begnadigt«. Werner Rüdiger, früher zweiter Vorsitzender der SPD in Berlin, wurde 1949 inhaftiert und ebenfalls mit 25 Jahren Lager bestraft. »Wir würden uns mitschuldig machen, wenn wir länger zu dem kommunistischen Terror in Berlin und in der Ostzone schweigen würden«, versuchte der spätere SPD-Vorsitzende Willy Brandt damals die Öffentlichkeit aufzurütteln, indem er berichtete, wie seine Parteifreunde im Osten massenhaft in Kellergefängnisse und Konzentrationslager verschleppt würden.
Obwohl die SPD nun ausgeschaltet war, gelang es der SED nicht, bei den Landtagswahlen im Oktober 1946 die absolute Mehrheit zu erringen. In Berlin, wo die SPD auch im Ostteil weiterexistierte, kam sie nicht einmal auf 20 Prozent, während die Sozialdemokraten fast 50 Prozent erhielten. Auf Stalins Anweisung gründeten KPD-Funktionäre deshalb 1948 zwei weitere Parteien: die Demokratische Bauernpartei Deutschlands (DBD) und die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NDPD). Sie gaben vor, die Interessen der Bauern sowie der einstigen Nationalsozialisten zu vertreten. Von der Militäradministration umgehend zugelassen, verschoben sich dadurch die Mehrheitsverhältnisse im »Demokratischen Block« weiter zugunsten der SED. Weil auch noch die SED-kontrollierten Gewerkschaften und Massenverbände aufgenommen wurden, war die Vorherrschaft der Kommunisten besiegelt.
Auf diese Weise entstand nur kurze Zeit nach dem Ende des Nationalsozialismus ein neues Unterdrückungsregime. Anders als die Westdeutschen erhielten die Ostdeutschen nicht die Chance, die 1933 zerstörte Demokratie wieder aufzubauen. Gerade die, die die Lehren aus der Vergangenheit ziehen wollten und sich für einen demokratischen Neubeginn engagierten, wurden von den neuen Machthabern rücksichtslos verfolgt. Nie wieder kamen zwischen Elbe und Oder so viele Menschen aus politischen Gründen in Haft oder zu Tode wie in den ersten vier Nachkriegsjahren. Nie wieder ergriffen so viele die Flucht. Bis zur Gründung der DDR im Oktober 1949 verließen rund zwei Millionen Menschen die sowjetische Besatzungszone.
Für die deutschen Kommunisten war die Bildung der SED ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Macht. Mit der Gründung der DDR am 7. Oktober 1949 verfügten sie erstmals über einen eigenen Staat, in dem sie ihre Ideen von der »Befreiung der Arbeiterklasse«, der »Beseitigung der Ausbeutung« und der »klassenlosen Gesellschaft« verwirklichen konnten. Zu den Vorstellungen des klassischen Kommunismus gehörte es, dass der Klassengegner, also das Bürgertum und die mit ihm verbundenen Kräfte, von der Machtausübung ausgeschlossen werden müssten. Doch auch das Proletariat ist nach der von Lenin weiterentwickelten Theorie nicht in der Lage, seine Interessen selbst zu erkennen, sondern muss von seinen bewusstesten Teilen angeleitet werden. Diese sogenannte Avantgarde bildet die kommunistische Partei, die selber wiederum streng hierarchisch aufgebaut ist, weil der Kampf für den Sozialismus nur mit einer schlagkräftigen Organisation zu gewinnen ist. Die gesamte Entscheidungsgewalt liegt deshalb in den Händen einer kleinen Funktionärsclique mit einem absoluten Macht- und Wahrheitsanspruch.
In der DDR führte diese Vorstellung dazu, dass die Bevölkerung über vierzig Jahre lang nicht frei über ihre Regierung entscheiden durfte. Obwohl die erste DDR-Verfassung eine »allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Wahl« vorschrieb, kreierte die SED 1950 ein Wahlsystem, bei dem weder zwischen Parteien noch zwischen Personen gewählt werden konnte. Stattdessen gab es eine sogenannte Einheitsliste, die man lediglich bestätigen oder ablehnen konnte. Die Sitzverteilung stand immer schon vorher fest. Damit sich die Bürger dieser Farce nicht entzogen, wurden sie massiv unter Druck gesetzt, zur »Wahl« zu gehen, die darin bestand, den Kandidatenzettel unverändert in die Urne zu werfen. Zusätzlich wurden die Ergebnisse auch noch gefälscht, damit die SED eine Zustimmung von annähernd hundert Prozent vermelden konnte. Widerstand gegen dieses undemokratische Wahlsystem wurde bereits in den Anfängen brutal unterdrückt – wie das Beispiel des LDPD-Generalsekretärs Günter Stempel zeigt, der zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde, weil er angekündigt hatte, gegen das Gesetz zu stimmen. Der Student Herbert Belter wurde sogar hingerichtet, weil er gegen das dubiose Wahlrecht Flugblätter verteilt hatte.
Getreu dem leninistischen Avantgardekonzept übten in der DDR freilich weder das Parlament noch die Regierung die Macht aus. Alle wichtigen Entscheidungen wurden vielmehr von der SED und ihrer Führung getroffen. Die maßgebliche Figur des neuen Staates war deshalb nicht Präsident Wilhelm Pieck oder Ministerpräsident Otto Grotewohl, sondern Walter Ulbricht, der 1950 das neu geschaffene Amt des SED-Generalsekretärs übernahm. Seine Macht ging so weit, dass er sogar über die Verhängung von Todesurteilen entschied. Nach Piecks Ableben übernahm Ulbricht auch noch die Funktion des Staatsoberhauptes. 1968 wurde die führende Rolle der SED sogar in der Verfassung verankert.
Die Parteispitze besaß eine Machtfülle, wie sie nicht einmal in Feudalgesellschaften existierte. Jedes Gesetz musste, bevor es der Volkskammer vorgelegt werden durfte, vom Politbüro genehmigt werden. Dieses lenkte auch die gesamte Regierungsarbeit und den Staatsapparat. Als Herr über die verstaatliche Wirtschaft entschied es zudem über den Großteil der wirtschaftlichen Belange. Zehntausende Leiter in allen Bereichen – die sogenannten Nomenklaturkader – durften schließlich nur mit Zustimmung der SED besetzt werden. Zur Kontrolle ihrer Vorherrschaft existierte obendrein in allen Institutionen eine Parallelstruktur aus Parteileitungen und Parteisekretären – die Diktatur der SED war wahrhaft allumfassend.
Das Politbüro herrschte auch über die eigenen Genossen diktatorisch. Das Parteistatut von 1950 verbot es den damals 1,6 Millionen SED-Mitgliedern, abweichende Auffassungen zu vertreten oder sich an fraktionellen Gruppierungen zu beteiligen. Für den erwünschten Kadavergehorsam sorgten ein Berichtssystem von unten nach oben, ein an Gehirnwäsche erinnerndes Ritual von Kritik und Selbstkritik sowie ein Katalog von Parteistrafen, die neben dem sonstigen politischen Strafrecht existierten. Die brutale Durchsetzung dieses absolutistischen Führungsanspruchs erfolgte bereits in den Anfangsjahren. Nach dem Zerwürfnis mit Jugoslawien 1948 initiierte Stalin in allen sowjetisch besetzten Ländern groß angelegte Säuberungen, damit sich die Kommunisten bedingungslos seinem Willen unterwarfen. 1949 fanden in Ungarn und Bulgarien die ersten Schauprozesse gegen Spitzenpolitiker statt, von denen viele zum Tode verurteilt wurden, obwohl sie völlig unschuldig waren. Auch in der SED setzte damals eine gespenstische Hatz auf treue Funktionäre ein. Vor allem diejenigen, die die NS-Zeit im Westen verbracht hatten oder jüdischer Abstammung waren, galten als potentielle Abweichler. Sämtliche Parteimitglieder wurden damals überprüft, 150 000 – darunter viele ehemalige Sozialdemokraten – 1951 ausgeschlossen. Selbst hochrangige Kommunisten wie das Ex-Politbüromitglied Paul Merker verloren ihre Ämter, wurden verhaftet und gefoltert, damit sie sich als Verschwörer oder Spione bezichtigten.
Die Vorstellung, dass mit dieser Form der Machtorganisation den Interessen der Menschen am besten gedient werden könnte, bewahrheitete sich nicht. Abgesehen von dem unvorstellbaren individuellen Leid, das mit der brutalen Durchsetzung des Sozialismus einherging, brachte die Beseitigung jeder Art von Opposition ein bürokratisches Regime hervor, das kaum in der Lage war, Probleme frühzeitig zu erkennen und wirksam darauf zu reagieren. Das starre Prinzip von Befehl und Gehorsam erwies sich als ungeeignet, komplexe gesellschaftliche Abläufe zu regulieren. Bei Großprojekten wie dem 1952 begonnenen Bau der Ost-Berliner Stalinallee mochte die Planwirtschaft vielleicht geeignet sein, in kurzer Zeit erhebliche Ressourcen zu mobilisieren, doch bei der Versorgung der Menschen mit Toilettenpapier oder modischer Kleidung erwies sie sich bis zuletzt als unfähig. Da demokratische Kontrollmechanismen fehlten, war das System zudem besonders anfällig für Amtsmissbrauch und Korruption. Zugleich war es in hohem Maße unpopulär, weil die Führung, getreu ihrem eigenen Machtanspruch, für sämtliche Schwierigkeiten im Lande verantwortlich gemacht wurde. Die Parteispitze überspielte zwar ihre fehlende Legitimation mit einem penetranten Führerkult – doch in Wirklichkeit lebte sie in ständiger Angst vor dem eigenen Volk.
Dieser Umstand ist in der Rückschau die wichtigste Erfahrung aus vierzig Jahren DDR-Sozialismus: Ein System, das grundlegende menschliche Bedürfnisse wie die nach individueller Freiheit oder materiellem Eigennutz unterdrückt, muss ständig neue Maßnahmen ersinnen, damit es nicht unterlaufen oder gestürzt wird. Überwachung und Unterdrückung waren keine Deformation des Sozialismus, sondern gehören zu ihm wie das Töten zum Krieg. Um ihr System zu schützen, schuf die SED deshalb bereits im Februar 1950 einen geheimen Sicherheitsdienst: das sogenannte Ministerium für Staatssicherheit (MfS), im Volksmund: die Stasi. Obwohl es formal zur Regierung gehörte, hatte es laut Geheimstatut zuerst den Direktiven des Politbüros zu folgen. Als »Schild und Schwert der Partei« entwickelte sich das MfS in kürzester Zeit zur ebenso umfassenden wie gefürchteten Geheimpolizei. Mit 10 000 hauptamtlichen Mitarbeitern hatte es bereits 1953 mehr Personal als die Gestapo im Deutschen Reich. Alle zehn Jahre verdoppelte sich die Zahl seiner Beschäftigten und erreichte am Ende die Zahl von 91 000. Die Stasi öffnete täglich 90 000 Briefe, hörte Zehntausende Telefone ab und lenkte mehr als 180 000 Spitzel. Im Laufe ihrer Existenz betrieb sie Hunderttausende Überwachungsvorgänge und Ermittlungsverfahren, verhaftete schätzungsweise 200 000 missliebige Bürger, führte ungezählte Verhöre und unterhielt siebzehn eigene Untersuchungsgefängnisse. Ihre Befugnisse waren in keinem Gesetz geregelt, eine parlamentarische Kontrolle fand nicht statt. Der riesige Überwachungsapparat der SED brachte nicht nur ein beispielloses Spitzelsystem hervor und verschlang enorme Ressourcen. Er zeigte auch, wie sehr die Führung der Stabilität ihres Systems misstraute und welcher Aufwand erforderlich war, es zu sichern.
Offiziell verkündete die SED den »Aufbau des Sozialismus« auf ihrer II. Parteikonferenz im Juli 1952. Nachdem Stalins Pläne, ganz Deutschland unter Kontrolle zu bekommen, gescheitert waren, sollte die DDR zu einem Bollwerk gegen den Westen ausgebaut werden. Im Mai 1952 riegelte die SED deshalb die innerdeutsche Grenze ab und ließ in der sogenannten Aktion »Ungeziefer« mehr als 8000 als unzuverlässig eingeschätzte Personen aus dem Grenzgebiet deportieren. Wenig später begann der Aufbau einer geheimen DDR-Armee. Im Juli erklärte die SED, dass die Errichtung des Sozialismus zur grundlegenden Aufgabe in der DDR geworden sei, und betonte, dass dabei »die Verschärfung des Klassenkampfes unvermeidlich ist und die Werktätigen den Widerstand der feindlichen Kräfte brechen müssen«. Im Gegensatz zur Marx’schen Theorie, dass der Staat im Sozialismus absterben würde, wurde er nun noch bedeutender, denn die Revolution von oben sollte mit seiner Hilfe durchgesetzt werden. Die SED löste die ostdeutschen Länder und Provinzen auf und verwandelte die DDR in einen zentralistischen Einheitsstaat.
Um den Sozialismus unumkehrbar zu machen, sollten vor allem die Reste der Privatwirtschaft beseitigt werden. Die Tatsache, dass die Lebensmittelversorgung nach wie vor zu einem Großteil in privater Hand lag, beunruhigte die Parteiführung. Sie zwang deshalb die Bauern, ihre Höfe in sogenannte Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften (LPGs) zu überführen. Allein zwischen August 1952 und Januar 1953 fanden über 1200 Verfahren gegen widerspenstige Bauern statt, die in der Regel nicht nur zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, sondern auch ihr gesamtes Vermögen verloren. Zahlreiche Landwirte gingen damals in den Westen, Tausende andere resignierten und flüchteten in den Schoß der LPG, die zu einem Rädchen im Getriebe der Planwirtschaft mutierte.
Mit ähnlichen Methoden ging die SED gegen die verbliebenen Kleinunternehmer vor. Anfang 1953 wurden anhand sogenannter Liquidationslisten zahlreiche Kleinbetriebe durchsucht und ihre Besitzer bei geringsten Steuerrückständen oder minimalen Privatgeschäften verhaftet und enteignet. Im Ostseebad Kühlungsborn wurde zum Beispiel die Pächterin eines Kinderheimes zu sechzehn Monaten Haft verurteilt, weil sie Zucker beiseitegelegt hatte, um daraus für die Kinder Marmelade zu kochen. Allein im Februar und März 1953 wurden im Rahmen der Aktion »Rose« an der Ostsee 447 Menschen festgenommen und 621 Häuser und Grundstücke verstaatlicht. Darüber hinaus entzog die DDR-Regierung allen Selbständigen den Kranken- und Sozialversicherungsschutz. Wer mehr als fünf Beschäftigte hatte, bekam keine Lebensmittelkarten mehr, so dass die Selbständigen regelrecht ausgehungert wurden. Tausende Handwerker und Kleinunternehmer gaben damals ihren Betrieb auf oder überführten ihn in eine Genossenschaft.
Der Klassenkampf von oben richtete sich auch gegen die Kirchen, das wichtigste Refugium des Bürgertums. Insbesondere die evangelische Jugendarbeit war der SED ein Dorn im Auge. Im Januar 1953 beschloss das Politbüro, in kurzer Zeit drei bis vier öffentliche Prozesse zur »Entlarvung« der Jungen Gemeinde als »Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage« durchzuführen. In tribunalähnlichen Versammlungen wurden christlich engagierte Schüler und Studenten zu »Agenten« erklärt oder aufgefordert, sich von der Kirche loszusagen. Tausende mussten die Oberschule oder Universität verlassen, über siebzig Pfarrer und Jugendleiter sowie eine unbekannte Zahl junger Christen kamen ins Gefängnis. Die gleichgeschaltete Presse flankierte die Kampagne mit entsprechender Berichterstattung. »Dieser Feind der werktätigen Bevölkerung hatte es fertiggebracht, die Einwohner des Dorfes jahrelang zu terrorisieren«, schrieb zum Beispiel die Schweriner Volkszeitung über den Gemeindepfarrer Karl-August Brandt in Mecklenburg. »Die gesamte werktätige Bevölkerung der Zentralgemeinde Lohmen erwartet eine strenge Bestrafung des Verbrechers.« Wenig später wurde er, obwohl völlig unschuldig, zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt.
Die SED wusste, dass ihre Vorstellungen nur von einer kleinen Minderheit geteilt wurden. Deshalb spielte die politische Propaganda eine herausragende Rolle. Wie in George Orwells Roman 1984 berieselten Lautsprecher die Bevölkerung mit agitatorischen Reden und entsprechender Musik, während Propagandaplakate zu größeren Arbeitsleistungen aufforderten oder den baldigen Sieg des Sozialismus verkündeten. An den Straßenrändern erhoben sich überlebensgroße Bildnisse von Marx, Stalin oder Ulbricht, Sportstadien, Großbetriebe und sogar ganze Städte wurden nach kommunistischen Führern benannt. Zeitungen, Radio und Fernsehen, die sich allesamt in Staats- oder Parteibesitz befanden, dienten vor allem der politischen Manipulation der Bevölkerung.
Ausgerechnet die Arbeiter, für die der Sozialismus gemacht war, brachten ihn 1953 beinahe zu Fall. Um die Kosten für die Aufrüstung und den Ausbau der Schwerindustrie aufbringen zu können, hatte die SED beschlossen, die Arbeitsnormen anzuheben. Einige Hundert Bauarbeiter zogen deshalb am 16. Juni von der Ost-Berliner Stalinallee zum Haus der Ministerien, um eine Rücknahme der Normenerhöhung zu fordern – und lösten damit einen unerwarteten Flächenbrand aus. Tausende Berliner schlossen sich ihnen an und verlangten den Rücktritt der Regierung und freie Wahlen. In der Folge kam es in über 650 Orten zu spontanen Protesten. 600 Betriebe wurden bestreikt, 140 Partei- oder Verwaltungsgebäude gestürmt, knapp 1400 Häftlinge aus Gefängnissen befreit. Das Regime schien am Ende, das Politbüro flüchtete sich ins sowjetische Hauptquartier. Doch die Besatzer verhängten den Ausnahmezustand, ließen Panzer auffahren und schlugen den Volksaufstand nieder. Über fünfzig Menschen wurden getötet, etwa 13 000 inhaftiert und mindestens 1600 abgeurteilt. Der 17. Juni, an dem der SED die Macht beinahe entglitten wäre, wurde zum Trauma der Funktionäre – und zu einer bitteren Lehre für das Volk.
Nach dem Aufstand verlangsamte die SED-Führung ihr Umbauprogramm. Mit sozialen Maßnahmen versuchte sie, die Arbeiter ruhigzustellen. Doch schon Ende der 1950er Jahre unternahm sie einen zweiten Anlauf, den Sozialismus zu vollenden. Die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft wurde zu Ende geführt, weitere Teile des privaten Handwerks und Handels wurden in Genossenschaften gezwungen. Die Folge war erneut ein starker Anstieg der Flüchtlingszahlen: Fast 200 000 kehrten 1960 der DDR den Rücken, 160 000 folgten bis Mitte August 1961 – dann errichtete die SED die Mauer und machte ihren Staat zu einem großen Gefängnis. Wer jetzt noch flüchten wollte, riskierte sein Leben. Mit Selbstschussanlagen und Tretminen, Panzersperren und Signalanlagen rüstete das Regime nach und nach die innerdeutsche Grenze auf, gegen »Grenzverletzer« wurde rücksichtslos von der Schusswaffe Gebrauch gemacht. Schon ein Jahr später konnte die SED den »Sieg der sozialistischen Produktionsverhältnisse« verkünden. Der Mauerbau stand nicht im Widerspruch zum Sozialismus, sondern war die logische Konsequenz aus dem gewaltsamen Umbau der Gesellschaft.
Eigentlich hätte die SED-Führung nun ungestört ihre Utopie verwirklichen können. Hinter dem »antifaschistischen Schutzwall«, wie die DDR die Mauer titulierte, konnte sie 28 Jahre lang ziemlich sicher schalten und walten, zumal ihr Halbstaat bald auch international anerkannt wurde. Eine ganze Generation wuchs ausschließlich unter sozialistischen Bedingungen heran, unbeeinflusst vom »bürgerlichen Klassengeist«. Doch statt das versprochene kommunistische Paradies zu errichten, stand das Regime weiter mit dem Rücken zur Wand. Weder gelang es der SED, das Land wirtschaftlich leistungsfähig zu machen, noch vermochte sie die Menschen so vom Sozialismus zu überzeugen, dass sie ihnen die demokratischen Freiheitsrechte risikolos hätte zurückgeben können.
1971 wurde der Altkommunist Ulbricht von seinem Kronprinzen Erich Honecker abgesetzt. Dieser wollte die Menschen durch mehr Konsum und kleine kulturelle Freiräume zu verstärkten Leistungen motivieren; zugleich verstaatlichte er die Reste der Privatwirtschaft. Doch die »Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik«, wie die SED ihre Strategie nun überschrieb, bewirkte nach einer kurzen Blüte, dass das Land laufend mehr konsumierte als produzierte. Wie der Leiter der ZK-Abteilung Planung und Finanzen Günter Ehrensperger 1989 konstatierte, lebte die DDR »mindestens seit 1973 Jahr für Jahr« über ihre Verhältnisse. Vor allem die staatlich festgesetzten Preise – Kern jeder sozialistischen Wirtschaft – führten zu ungeheurer Verschwendung, da sie die tatsächlichen Kosten stark verzerrten. Die Subventionen, insbesondere für verbilligte Grundnahrungsmittel, verschlangen riesige Summen. Auch der aufgeblähte Staats- und Parteiapparat beanspruchte enorm viel Geld. Die Verschuldung im Westen nahm rapide zu, notwendige Investitionen blieben aus, die Betriebe lebten immer mehr von ihrer Substanz.
Nur zwei bundesdeutsche Milliardenkredite retteten die DDR Anfang der 1980er Jahre vor der Zahlungsunfähigkeit. Danach konnte sie sich noch eine Zeit lang über Wasser halten, indem sie billiges sowjetisches Rohöl weiterverarbeitete und gegen Devisen in den Westen verkaufte. Doch die ebenfalls krisengeschüttelte Sowjetunion reduzierte ihre Lieferungen und wollte sie schließlich in Valuta bezahlt haben. Gleichzeitig sanken auf dem Weltmarkt die Preise für Erdölprodukte. Ab Mitte der 1980er Jahre verschärften sich dadurch die wirtschaftlichen Probleme der DDR dramatisch. Obwohl die Stasi im Westen in großem Stil Technologien stahl, fiel das Land beim technischen Fortschritt immer weiter zurück.
Auch politisch geriet das System immer mehr unter Druck. Die internationale Anerkennung der DDR erwies sich als zweischneidiges Schwert. Statt auf der Flucht das eigene Leben zu riskieren, stellten nun immer mehr Menschen einen Ausreiseantrag. Sie beriefen sich dabei auf die UN-Menschenrechtskonvention und die KSZE-Schlussakte, zu deren Einhaltung sich die DDR verpflichtet hatte. Die SED reagierte darauf, indem sie einerseits den Überwachungsstaat ausbaute und zahlreiche Verhaftungen vornahm, andererseits Zehntausenden eine Ausreisegenehmigung erteilte – was nur dazu führte, dass noch mehr Menschen einen Antrag stellten.
Als 1985 in der Sowjetunion Michail Gorbatschow an die Macht kam, tat sich für die SED im Osten eine zweite, noch gefährlichere Front auf. Wer jetzt in der DDR mehr Freiheit forderte, konnte sich auf das Mutterland des Sozialismus berufen. Das Politbüro verlor zudem seine Lebensversicherung, weil es sich nicht mehr darauf verlassen konnte, dass im Ernstfall sowjetische Soldaten zu Hilfe kommen würden. Die Glaubwürdigkeit des Regimes litt weiter, als Bürgerinitiativen nachwiesen, dass die SED im Mai 1989 die Kommunalwahlen gefälscht hatte.
Wenig später kam es zur größten Fluchtwelle seit dem Mauerbau. In den Sommerferien 1989 schlugen sich Tausende in die bundesdeutschen Botschaften nach Warschau, Budapest und Prag durch und verlangten ihre Ausreise. Allein aus Prag gelang auf diese Weise etwa 17 000 Menschen die Flucht. Zur selben Zeit begann Ungarn mit dem Abbau seiner Grenzanlagen nach Österreich. Ab September ließ man DDR-Bürger ungehindert passieren; bereits in den ersten drei Tagen nutzten 18 000 Menschen die unverhoffte Gelegenheit. Die Gesamtzahl aller Flüchtlinge im September und Oktober 1989 belief sich auf über 75 000 – eine politische Abstimmung mit den Füßen, von Millionen DDR-Bürgern im Fernsehen hautnah mitverfolgt.
In dieser Situation formierte sich erstmals wieder seit dem 17. Juni 1953 massenhafter Protest. Im September 1989 gründeten Bürgerrechtler das Neue Forum und forderten einen »demokratischen Dialog«. Mit der Sozialdemokratischen Partei (SDP) entstand Anfang Oktober die erste unabhängige Partei. Am 2. Oktober demonstrierten etwa 8000 Menschen in Leipzig, bis sie von der Polizei mit Gummiknüppeln, Hunden und Wasserwerfern auseinandergetrieben wurden. Eine Woche später waren es bereits 70 000, obwohl ein Kampfgruppenkommandeur zuvor mit Waffeneinsatz gedroht hatte.
Rückblickend ist es immer noch ein Wunder, dass die SED die Proteste nicht gewaltsam niederschlug. Die Planungen für den Ernstfall, einschließlich Isolierungslager für Regimegegner, lagen fertig bereit. Entscheidend für den Sieg der aufbegehrenden Bürger war der 9. Oktober in Leipzig, als die Staatsmacht vor der Überzahl der Demonstranten kapitulierte. Aus Furcht vor einer Eskalation entschied damals der amtierende SED-Bezirkschef in Leipzig – und nicht ZK-Sekretär Krenz, wie dieser später behauptete –, dass die Sicherheitskräfte in ihren Stellungen bleiben sollten. »Sollen wir dazwischengehen bei 20 000, 30 000, 40 000 Bürgern?«, rechtfertigte sich Innenminister Friedrich Dickel später vor den Polizeichefs der Bezirke. »Da können wir gleich SPW [Schützenpanzerwagen] oder Panzer einsetzen.« Das Stillhalten der Diktatur beflügelte die Protestbewegung. Als Honecker, Mielke und Krenz im Lagezentrum des Innenministeriums am 16. Oktober 1989 den Aufmarsch von 120 000 Leipzigern per Übertragungskamera mitverfolgten, müssen ihnen die Ohren geklungen haben, als sie die machtvollen Rufe hörten »Wir sind das Volk«.
Proteste dieser Größenordnung konnte man nicht mehr mit Schlagstöcken zerstreuen. Doch die SED wagte es nicht, massivere Mittel einzusetzen oder den später von Stasi-Offizieren ins Spiel gebrachten Ausnahmezustand zu verhängen. Ohne Rückendeckung der Sowjetunion schreckte selbst Mielke vor derartigen Maßnahmen zurück, zumal die Sicherheitskräfte nicht mehr als hundertprozentig zuverlässig galten. »Wir können doch nicht anfangen, mit Panzern zu schießen«, mokierte sich der Stasi-Minister im Politbüro über Honecker, der vorgeschlagen hatte, ein Panzerregiment in Leipzig auffahren zu lassen. In zahlreichen Städten kam es bald zu ähnlichen Demonstrationen, die Menschen verloren ihre Angst. Zwischen Massenprotest und Massenflucht zerbröselte der Sozialismus wie morsches Holz.
Höhepunkt des Protestes war eine Kundgebung auf dem Berliner Alexanderplatz. Am 4. November 1989 kamen dort mehr als eine halbe Million Menschen zusammen. Die Stimmung war – so brachte es der Schriftsteller Stefan Heym auf den Punkt –, »als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit«. Demokratie, so rief er unter dem Beifall der Demonstranten aus, bedeute Herrschaft des Volkes. »Freunde, Mitbürger, üben wir sie aus – diese Herrschaft!«
Der Mauerfall am 9. November besiegelte den Untergang des Sozialismus, die Besetzung der Stasi-Dienststellen vollendete ihn. Hier zeigte sich noch einmal, wie sehr das System auf nackter Gewalt beruhte. Als die Zwangsmittel nicht mehr zur Verfügung standen, fiel es wie ein Kartenhaus zusammen. Anders, als sich mancher damals erhoffte, kam es auch nicht zu einer reformierten DDR – weil Demokratie und Sozialismus einander ausschließen.
Nach vierzig Jahren hinterließ die SED ein heruntergekommenes Land. Straßen und Schienenwege, Strom- und Telefonnetz, Wasserleitungen und Kanalisation befanden sich in erbarmungswürdigem Zustand, Fabriken und die Altbauten der Innenstädte waren völlig marode. Auch die Umwelt war schwer geschädigt. Die Lebenserwartung lag um drei Jahre niedriger als in der Bundesrepublik. Bei der Ausstattung der privaten Haushalte mit Autos, Konsumgütern oder modernen Sanitäranlagen hinkte die DDR meilenweit hinterher. Der Staat war hochverschuldet und stand unmittelbar vor der Zahlungsunfähigkeit.
Als Honeckers Nachfolger Egon Krenz den Chef der Plankommission, Gerhard Schürer, um einen Bericht zur wirtschaftlichen Lage bat, rechnete dieser vor, dass die Arbeitsproduktivität um 40 Prozent hinter derjenigen der Bundesrepublik zurückliege. Im Verkehrswesen seien 52 Prozent der Ausrüstungen verschlissen, in der Industrie 54 Prozent, im Bauwesen sogar 67 Prozent. Um die dennoch steigenden Staatsausgaben bestreiten zu können, müssten 1989 und 1990 zusätzliche Kredite in Höhe von 20 Milliarden Mark aufgenommen werden, wodurch die Gesamtverschuldung auf 140 Milliarden Mark ansteige. »Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahr 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen«, schrieb Schürer.
Noch schlimmer, weil schwerer zu beheben, waren die gesellschaftlichen Folgen von vierzig Jahren Sozialismus: Der Mittelstand, Rückgrat einer vitalen Volkswirtschaft, war nahezu liquidiert. Traditionelle Sozialmilieus, christliche Bindungen und bürgerliche Wertvorstellungen hatten sich weitgehend aufgelöst. Leistungsorientierung, Verantwortungsgefühl und Bürgersinn waren verkümmert. Mancher Ostdeutsche wusste kaum noch etwas mit der zurückgewonnenen Freiheit anzufangen. Auch das individuelle Leid war kaum zu ermessen. Wenigstens 270 Menschen waren an den Westgrenzen der DDR durch Schüsse oder Minen getötet, etwa siebenhundert meist schwer verletzt worden. 52 politische Gefangene waren auf Beschluss von DDR-Gerichten hingerichtet worden, über 1100 durch Urteile sowjetischer Militärtribunale, die bis 1955 tätig waren. Bis zu 280 000 Personen waren aus politischen Gründen ins Gefängnis gekommen, wo sie vielfach physisch oder psychisch misshandelt wurden. Hunderttausende waren überwacht und verfolgt worden, hatten Berufsverbot erhalten oder ihr Eigentum verloren. Millionen waren in der Schule diskriminiert, am Arbeitsplatz benachteiligt oder im Alltag drangsaliert worden. Viele wurden für immer ihrer Lebenschancen beraubt, weil sie in der DDR kein Abitur machen, nicht studieren und keinen Beruf ihrer Wahl ergreifen durften. Über 3,6 Millionen Flüchtlinge und Ausreiseantragsteller hatten schließlich Heimat, Verwandte und Freunde verlassen müssen, um ein Leben in Freiheit führen zu können. Die Wunden, die all dies schlug, sind bis heute nicht verheilt.
3. Fazit
Vergleicht man die beiden wichtigsten Phasen des klassischen Kommunismus in Deutschland, ergeben sich in zentralen Punkten Kontinuitäten und Übereinstimmungen. Die Vorstellung eines „guten“ utopischen Kommunismus vor der Machtergreifung und eines „schlechten“ real existierenden Sozialismus nach der Machtergreifung lässt sich so nicht halten. Auch personell und organisatorisch handelt es sich – trotz zwölfjähriger Verfolgung durch den Nationalsozialismus – um eine in hohem Maße von Kontinuität geprägte politische Bewegung. Übereinstimmung besteht vor allem in folgenden Punkten:
Erstens: Gewalt war für die kommunistische Bewegung immer ein zentrales Mittel der Politik. Was Revolution und bewaffneter Aufstand im Kampf um die Macht bedeuteten, fand im Sozialismus seine Fortsetzung in der Gewalt des Staates und seiner Sicherheitsdienste.
Zweitens: Der klassische Kommunismus stand der parlamentarischen Demokratie immer ablehnend gegenüber. Während diese Ablehnung in der ersten Phase vor allem agitatorischer sowie praktisch-politischer Natur war, wurde die parlamentarische Demokratie in der zweiten Phase schon nach kurzer Zeit beseitigt bzw. durch eine kommunistisch kontrollierte Schein-Demokratie ersetzt.
Drittens: Die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und die Errichtung einer staatlich kontrollierten Wirtschaft standen zu allen Zeiten im Zentrum der kommunistischen Ideologie. Während diese Vorstellung in der ersten Phase eine politische Forderung war, wurde sie nach der Machtergreifung der Kommunisten in kürzester Zeit konsequent realisiert.
Viertens: Schon in den Ideen von Marx, aber erst Recht in denen von Lenin war angelegt, dass die Kommunisten und ihre Führung ein Macht- und Wahrheitsmonopol für sich in Anspruch nahmen. Der sogenannte demokratische Zentralismus, also die Diktatur einer kleinen Gruppe von Parteiführern über die Partei und später auch die Gesellschaft, ist in beiden Phasen das bestimmende Element des klassischen Kommunismus gewesen.
Diese Kontinuitäten sind in Deutschland bis heute nur unzureichend präsent. So erinnern im Osten des Landes immer noch Hunderte von Straßennamen vor allem auf dem Land an Karl Marx, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht oder Wilhelm Pieck. Nur Walter Ulbricht ist aus dem Straßenbild verschwunden, weil er nach seiner Absetzung durch Erich Honecker schon von seinen eigenen Genossen eliminiert wurde. In Potsdam gibt es heute noch ein Karl-Liebknecht-Stadion und jedes Jahr im Januar veranstaltet die ehemalige SED, die jetzt Die Linke heißt, zusammen mit anderen linken Organisationen eine Demonstration zu den Gräbern Luxemburgs und Liebknechts, an der mehrere Zehntausend Menschen teilnehmen. Die Bundesgeschäftstelle der Partei, die in der ehemaligen KPD-Zentrale residiert, nennt ihr Gebäude Karl-Liebknecht-Haus heißt, und die aus Steuermitteln finanzierte parteinahe Stiftung trägt den Namen Rosa Luxemburgs. In Büchern, Filmen und Zeitungsartikeln wird insbesondere Luxemburg von linken und linksliberalen Kreisen bis heute romantisiert. Zu Unrecht wird dabei ein Gegensatz zwischen dem Kommunismus im Kampf um die Macht und dem Kommunismus an der Macht, zwischen Rosa Luxemburg und Erich Honecker, konstruiert. Es bedarf noch erheblicher Aufklärungsarbeit, um diesen Irrtum aus der Welt zu schaffen.
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